Haben Sie Lust, mit Kindern in die Welt der Philosophie einzusteigen? Das renommierte Prindle Institute for Ethics der DePauw University in Indiana (USA) hat einen Leitfaden zur Arbeit mit dem Bilderbuch "Bin ich klein?" veröffentlicht (verfügbar auf Englisch und Spanisch).
Sie finden den Leitfaden im Folgenden in deutscher Übersetzung (PDF) mit einer zusätzlichen kurzen Einleitung der Übersetzerin Sandra Hamer (wie der Originaltext darf auch die deutsche Übersetzung frei reproduziert und weiterverbreitet werden unter der Creative Commons Lizenz "Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)"):
Einleitung:
Haben
Sie Lust, mit Kindern in die Welt der Philosophie einzusteigen?
Philipp Winterbergs zauberhaftes Bilderbuch „Bin
ich Klein?“ ist bestens dafür
geeignet, die Themen Relativismus, Wahrheit und moralischen
Relativismus mit der Klasse zu diskutieren. Um Sie dabei zu
unterstützen, haben Sarah Kochanek und Anna Shao einen Leitfaden zur
Unterrichtsgestaltung zusammengestellt, der
vom Prindle Institute for Ethics
der DePauw University
veröffentlicht wurde. Darin finden Sie
eine Zusammenfassung der Handlung, eine Diskussion der wichtigsten
philosophischen Fragen, die in „Bin
ich klein?“ aufgeworfen werden,
und eine Reihe von Fragen, die verwendet werden können, um eine
philosophische Diskussion über das Buch mit Kindern zu beginnen.
Den
Originaltext in Englisch finden Sie online unter
https://www.prindleinstitute.org/books/am-i-small/.
(Herausgegeben
im Juni 2020 von The Janet Prindle
Institute for Ethics unter
der Creative Commons Lizenz „Attribution
4.0 International (CC BY 4.0)“)
Bin
ich klein?
Von Philipp
Winterberg
Zusammenfassung
Das Buch „Bin
ich klein?“ beschäftigt sich mit Fragen der
Meinungsverschiedenheit und kann u.a. dazu verwendet werden,
Relativismus – sei es moralischer Relativismus oder eine andere
Teilströmung – zu diskutieren.
Tamia wundert
sich über die Frage „Bin ich klein?“. Auf ihrer Suche nach einer
Antwort spricht sie mit Menschen, Tieren und sogar dem Mond und
erhält dabei völlig unterschiedliche Antworten: Während die
Schildkröte meint, Tamia sei groß, findet der Mond sie
mikroskopisch klein! Nach einer langen und zauberhaften
Entdeckungsreise stellt Tamia fest, dass Größe relativ ist und sie
sich von all ihren Begegnungen unterscheidet. Sie kommt zu dem
Schluss, dass sie, wenn sie alles ist, genau so richtig ist, wie sie
ist.
Leitfaden zur philosophischen Diskussion
Ausgehend von dem
Konflikt, den Tamia wegen ihrer Größe erlebt, ist es einfach, das
Konzept des Relativismus aufzugreifen, oder, wie es die Stanford
Enzyklopädie der Philosophie ausdrückt: „die Ansicht, dass
Wahrheit und Unwahrheit, Richtig und Falsch, Maßstäbe für
Argumentation und Rechtfertigung als Produkte unterschiedlicher
Konventionen und Bewertungsrahmen anzusehen sind, und dass ihre
Autorität auf den Kontext beschränkt ist, der sie hervorbringt."
Diese Definition kann dazu verwendet werden, in eine Diskussion über
Objektivität und das Konzept der "einen allumfassenden
Wahrheit" einzusteigen.
Eine gute
Möglichkeit, um das Gespräch in Gang zu bringen, ist es, die Kinder
zu bitten, die Adjektive aufzulisten, mit denen Tamia im Buch
beschrieben wird (groß, klein, mikroskopisch, gigantisch). Nachdem
Sie diese Wörter gesammelt haben (am besten an die Tafel schreiben,
falls vorhanden), können Sie gemeinsam mit den Schüler*innen zum
Beispiel überlegen: Welche dieser Adjektive beschreiben Tamia
richtig? Sind einige davon falsch? Warum oder warum nicht? Dies
sollte zunächst zu einer Diskussion unter den Schüler*innen führen,
aus der deutlich wird, dass es verschiedene Meinungen gibt. In der
Regel sollte dann das Thema Relativismus zur Sprache kommen: Es hängt
ganz davon ab, wen oder was Tamia fragt, und wie diese*r ihre Frage
interpretiert. Relativismus ist das Konzept, dass Menschen
verschiedene Ansichten zu einem Thema haben können, basierend auf
kontextuellen Unterschieden, seien diese sozial, kulturell oder sogar
aufgrund der körperlichen Größe. In Winterbergs Buch wird
Relativismus anhand der verschiedenen Antworten angesprochen, die
Tamia auf die Frage nach ihrer Größe von verschiedenen Wesen
erhält.
Art und Ursache von unterschiedlichen Meinungen
Um das Thema Art
und Ursache von Meinungsverschiedenheit mit der Klasse zu erarbeiten,
können Sie die Schüler*innen fragen, ob z. B. der Mond und die
Schildkröte im Buch verschiedener Meinung sind. Ganz offensichtlich
beantworten sie Tamias Frage unterschiedlich, es ist jedoch weniger
klar, inwieweit sie dadurch verschiedener Meinung sind.
Zu diesem
Zeitpunkt können Sie Fragen stellen wie z. B.: Können zwei Menschen
verschiedener Meinung sein und trotzdem beide Recht haben? Geben Sie
den Kindern leicht verständliche Beispiele, wie z. B. einfache
mathematische Aufgaben oder wissenschaftliche Behauptungen.
Wahrscheinlich wird es bei dieser Art von Fragen nicht zu einer
Meinungsverschiedenheit kommen, daher sollten Sie die Diskussion über
die Art der Meinungsverschiedenheit fördern. Sie können nun auch
mehrdeutige Beispiele einführen, wie z. B.: Welche Meinung hat ein
Kind über den Geschmack eines Kekses? Welche Meinung hat ein*e
Mitschüler*in über den Geschmack? Die Antworten könnten
unterschiedlich sein, aber bedeutet das, dass eine*r von beiden
falsch liegt? Warum oder warum nicht?
Es gibt auch
Grenzfälle, bei denen Menschen definitiv nicht einer Meinung sind,
bei denen wir aber glauben, dass beide Personen nicht Recht haben
können. Z. B.: Verursacht der Mensch den Klimawandel? (Das Beispiel
sollte je nach Alter/Kenntnisstand der Klasse gewählt werden). Es
ist wichtig, die Schüler*innen zu bitten, ihre Meinung zu erläutern,
weil wir die Art der Meinungsverschiedenheit herausfinden und die
Gründe verstehen wollen, die andere für ihre Argumente haben.
Moralischer Relativismus/Wahrheit
Um die Diskussion
weiter in eine philosophische Richtung zu lenken, können Sie die
Antworten (und die Meinungsverschiedenheiten), die aus der vorherigen
Frage hervorgegangen sind, nutzen, um das Konzept der "Wahrheit"
zu ergründen. Gibt es eine richtige Antwort auf die Frage nach dem
Keks? Wenn nicht, warum? Bitten Sie die Schüler*innen, sich andere
Fragen einfallen zu lassen, auf die es vielleicht nicht nur eine
richtige Antwort gibt. Wie sieht es mit Fragen aus, die anscheinend
nur eine einzige richtige Antwort haben? Welche Unterschiede bestehen
zwischen diesen Arten von Fragen? Dies könnte eine gute Überleitung
in ein Gespräch über moralischen Relativismus sein, und wie
verschiedene Menschen unterschiedliche Moralvorstellungen/moralische
Prioritäten haben können. Wenn die Klasse von sich aus keine
moralischen/ethischen Fragen stellt, können Sie einige Fragen dieser
Art einführen, um so die Diskussion in diese Richtung zu lenken.
Anhand leicht verständlicher Beispiele (z. B.: Darf man lügen?)
können Sie die Diskussion dahingehend lenken, ob es eine objektive
moralische Wahrheit gibt oder ob moralische Wahrheit relativ ist.
Fragestellungen für eine philosophische Diskussion
Relativismus
Listet die
Adjektive auf, mit denen die Wesen im Buch Tamia beschreiben.
Warum
verwenden die Wesen unterschiedliche Begriffe? Sind einige der
Wörter, mit denen sie Tamia beschreiben, falsch? Welche Begriffe
sind richtig?
Wie würdest
du dich selbst beschreiben? Bist du klein? Bist du groß? Bist du
kurz?
Bist du im
Vergleich zu deinem Freund oder deiner Freundin klein? Bist du im
Vergleich zu einem Hasen immer noch klein?
Was würde
ein Elefant über dich denken? Was würde eine Katze über dich
denken?
Im Buch
denkt die Schildkröte, dass Tamia groß ist, und der Mond denkt,
dass Tamia mikroskopisch klein ist. Sind sie unterschiedlicher
Meinung? Warum oder warum nicht?
Mögliche
Antwort: Die beiden widersprechen sich, weil "groß" und
"mikroskopisch" zwei völlig unterschiedliche Begriffe
sind. Mögliche Antwort: Die beiden widersprechen sich nicht, weil
sie Tamia in Relation zu sich selbst sehen. Mit dieser Antwort können
Sie die Unterrichtseinheit weiter in Richtung Relativismus und
Meinungsverschiedenheit lenken. Stellen Sie dazu die Fragen im
nächsten Abschnitt.
Art und Ursache von unterschiedlichen Meinungen
Können zwei
Menschen unterschiedlicher Meinung über etwas sein, und trotzdem
beide Recht haben? Kannst du an ein Beispiel denken, wo das der Fall
ist? Kannst du auch ein Beispiel nennen, bei dem das nicht der Fall
ist?
Ich finde,
dass Brownies der beste Nachtisch sind. Mein Freund ist der Meinung,
dass Zitronenkuchen der beste Nachtisch ist. Sind wir verschiedener
Meinung? Gibt es eine richtige oder falsche Antwort auf diese Frage?
Warum oder warum nicht?
Das Problem der Wahrheit
Kannst du
etwas sagen, von dem du glaubst, dass niemand dem widerspricht? (z.
B.: „2 + 2 = 4“; Die Sonne geht im Osten auf, ...)
Seid ihr
alle damit einverstanden, dass „2 + 2 = 4“ ist? Gibt es auf
diese Frage eine richtige Antwort?
Akzeptiert
jede*r diese Antwort als die Wahrheit?
Ist die
Wahrheit etwas, das niemand anzweifelt?
Kann etwas
wahr sein, wenn Menschen darüber diskutieren? Ist beispielsweise
die globale Erderwärmung ein echtes Problem, das uns alle betrifft?
Früher gab
es neun Planeten im Sonnensystem. Jetzt sagen Wissenschaftler*innen,
dass es nur acht Planeten im Sonnensystem gibt. Ist eine der beiden
Aussagen wahr? Sind sie beide wahr, aber zu einem unterschiedlichen
Zeitpunkt?
Wenn sich
der Wahrheitswert einer Aussage ändern kann, bedeutet das, dass sie
nicht wirklich wahr ist? Müssen wahre Aussagen immer wahr sein (in
der Zukunft und in der Vergangenheit)?
Moralischer Relativismus
Moralische
Behauptungen, die die Klasse hinterfragen/diskutieren soll:
Glaubt ihr,
dass Lügen immer falsch ist? Wie sieht es mit einer Notlüge aus?
Glaubt ihr,
dass Stehlen immer falsch ist? Was ist, wenn du Essen stiehlst,
weil du hungrig bist und es dir nicht leisten kannst, es zu kaufen?
Unter
welchen Umständen denkt ihr, dass Lügen oder Diebstahl in Ordnung
sind? In welchen Situationen findet ihr, dass sie nicht in Ordnung
sind?
Warum denkt
ihr, dass ihr alle unterschiedliche Meinungen zu diesen Fragen habt
(moralische Behauptungen)?
Denkt ihr,
dass es eine richtige Antwort auf jede dieser Fragen gibt? Warum
oder warum nicht?
Vergleichen
wir die Behauptung, dass Lügen immer falsch ist mit der
mathematischen Gleichung „2 + 2 = 4“. Warum glaubt ihr, dass
jede*r mit der mathematischen Gleichung einverstanden ist, aber
Menschen sich bei einer moralischen Behauptung uneinig sind?
Ist die
Aussage, dass „Lügen immer falsch ist“ eine Wahrheit? Warum
oder warum nicht?
Sollte etwas
nur dann als wahr verstanden werden, wenn es unter allen Umständen
gleich ist?
Changelog:
Original
questions and guidelines for philosophical discussion by Sarah
Kochanek and Anna Shao. Edited June 2020 by The Janet Prindle
Institute for Ethics. (Originalfragen und Leitfaden für eine
philosophische Diskussion von Sarah Kochanek und Anna Shao. Editiert
und herausgegeben im Juni 2020 von The
Janet Prindle Institute for Ethics.)
Übersetzung
von Sandra Hamer veröffentlicht im Mai 2021 mit zusätzlicher Einleitung.